« Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein ; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. »
Johannes-Evangelium, XII,24
« Aus dem Leib der Sibylle, aufgelöst in der Erde,
werden Gras und Buschwerk wachsen,
die als Futter dienen werden den heiligen Kreaturen,
ihren Gedärm alle Art Farben,
Formen und Eigenschaften verleihend,
aus denen die Menschen ihre Voraussagen für die Zukunft ziehen. »
Plutarch
,
Über die Orakel der Pythia, 398d.


 

Auf dem Requiem - von François-Gildas Tual

Das Requiem ist kein Gelegenheitswerk. Noch weniger ein Auftragswerk. Der Komponist hätte etliche weiße Haare mehr, wenn wir darin das Werk eines Lebens sehen könnten, ein zentrales Werk, dessen Gegenwart man in den vorhergehenden Werken bereits erahnt, und in den zukünftigen, wie das von Hermann Brochs Der Tod des Vergil inspirierte Opernprojekt. Frucht reiflicher Überlegung, von unvorhergesehenen Begegnungen und Wunder, die Thierry Lancino auf seiner mediterranen Reise geschenkt bekam : « Der sizilianische Reisebericht von Maupassant hatte mich zu dem Kapuzinerkloster von Palermo und seinen morbiden Katakomben getrieben. Danach war es das Grab des Vergils auf der Flanke des Posillipo in Neapel, das mich sehr berührt hat. Damals wusste ich noch nicht, dass nicht weit von hier, in Cumae, die mythische Sibylle ihre Höhle hatte und sie die Zentralfigur meines Requiems werden würde. » Die Sibylle, die als einzigartige Prophetin statt der Geburt Christi ( Vergil, IV. Ekloge) dessen Wiederkommen am Tage des Jüngsten Gerichts verheisst : im XI. Jahrhundert haben einige liturgische Spiele sie bereits zu Moses, Jeremias, Daniel und David gestellt, eine Prozession von Propheten, Vergil inbegriffen, dessen Geist folglich dieses Requiem durchströmen sollte wie bereits in einer unvollendet gebliebene Oper.

Nach und nach erkennt Thierry Lancino, dass die lateinischen Quellen des Requiems ihn dazu einladen, die Sibylle und die Liturgie dialogisieren zu lassen : « Mein Projekt hat damit eine ganz andere Wendung genommen. Mir wurde bewusst, dass es im liturgischen Text bereits eine heidnische Präsenz gab : « Dies irae … teste David cum Sibylle » - Tag des Zorns … verheissen von David und der Sibylle. Von da an war ich überzeugt, dass für dieses Werk ein Original-Libretto geschrieben werden muss… »

Für das Libretto denkt Thierry Lancino auch gleich an Pascal Quignard : eine einzige Begegnung reicht aus um sich gegenseitig zu verstehen, vor allem um sich über den Platz einig zu sein, den die neuen Texte gegenüber der Liturgie einnehmen sollen. Schliesslich benötigt diese Zusammenarbeit weder Kompromisse, noch lange Diskussionen darüber, in welcher Art sich das Wort mit der Musik verknüpfen soll. Und kaum ist ihm der Auftrag bestätigt, fühlt der Komponist wie sein Geist sich entflammt : « Ungefähr fünf Wochen lang im Schockzustand, versuchte ich soviele Skizzen aufzuschreiben wie nur möglich, denn ich war von den aufkommenden Visionen regelrecht überflügelt. Danach bin ich ans Komponieren gegangen, zwei Jahre lang, mit sehr wenig Unterbrechungen. Pascal Quignard hat mir liebenswürdigerweise viel Ellbogenfreiheit gelassen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Und mit jener Idee als der einzigen Gewißheit, nämlich dass die Fusion von Poesie und Musik dem Werk eine neue Einheit verleihen würde. Ganz besonders zu schätzen weiß der Komponist beim Schriftsteller « die hervorragende Kenntniss der antiken Welt, die Poesie und die heraufbeschwörende Kraft, die aus seinen Texten ausströmen, und schließlich vor allem seine tiefgründigen Überlegungen über den Tod. » Sich im Sommer 2005 an Pascal Quignard wendend, denkt Thierry Lancino « an ein Requiem, in dem die Sibylle von Cumae auftritt, wie ein Gegengewicht / Kontrapunkt zum liturgischen Ritual. Ihre Stimme führt uns in die Welt der Toten. Natürlich Vergil / Aeneas, Dante / Vergil. Der grausame Tod dieser Sibylle inspiriert mir grosses Entsetzen und erinnert mich an das progressive und unausweichliche Schwinden unserer Zivilisation. Diese Sibylle hat mich bereits ein wenig gelenkt, besonders in den Versen in Waste Land von T.S. Eliot. Ein Gedicht, das mir zu einer grossen Inspirationsquelle für dieses Projekt geworden ist. Insbesondere die Stelle, die das Satyricon von Petron zitiert: “Nam Sibyllam quidem Cumis ego ipse oculis meis vidi in ampulla pendere, et cum illi pueri dicerent: “Sibylla, ti theleis?” respondebat illa: “Apothanein thelô!” *-- Ich will sterben ! – Diese Sibylle führt mich jetzt zu Ihnen. »

Richtiggehend « heimgesucht » vom Requiem, ersinnt Pascal Quignard nun die Konfrontation zwischen David und der Sibylle in einer Dichtung, die den Tod sowohl in den schrecklichsten Zügen als auch im Blick auf seine beruhigenden Tugenden malt und wo sich der Begriff von Auflösung mit dem Versprechen Ewigen Lebens vermählt : « Die aussergewöhnliche Idee, die in diesem Requiem vorherrscht und es von den anderen so tiefgründig unterscheidet, besteht eben genau darin, dieses Sehnen nach Auflösung und jenes nach Ewigkeit nebeneinander bestehen zu lassen ohne eine Wahl zu treffen. » Eine Dialektik und eine Synergie, die der Komponist als Quelle einer machtvollen Dynamik zu bewahren wünscht und die er an ihren Höhepunkt tragen muss : « Die Partitur geht voran. Schrittweise. Körnchen auf Körnchen. Und die Musik wird keine Wahl treffen. (…) Echos früherer Riten und sakrale Polyphonie werden einen Punkt der Begegnung, einen Punkt des Gegensatzes, einen Punkt einer möglichen Entfaltung finden. Das Spektakuläre wird mit Momenten reiner Andacht zusammenkommen. Die Sibylle wird uns in der Welt des Todes führen, sowie der heidnische Vergil den Dante auf seiner Initiations-Reise geführt hatte. Es wird hier also ein Wechselspiel geben, mehr noch, diese beiden Welten werden kommunizieren und an derselben Polyphonie mitwirken. Die Rauheit der einen wird von der anderen poliert ; die Zartheit der anderen verdorben. »

« Jetzt weiß ich, alle Antworten des Königs David werden in lateinischer Sprache sein. Ich bin vom Hebräischen abgekommen, weil ein König der jüdischen Antike in keiner Weise die andere Welt so gesehen hätte wie ein christlicher Prophet – was er in der Todesliturgie ist. (…) Ich brauche in der Tat eine heidnische Sibylle, die die christliche Liturgie ständig durcheinanderbringt um Letztere einer Passion gleichkommen zu lassen, um es kühn auszudrücken. Ich möchte nicht zwischen König David und der Sibylle von Cumae zu wählen haben. Ich möchte diese beiden Sehnsüchte einander gegenüber gestellt lassen. Dieses Requiem soll, in meinen Augen, nicht inmitten Schmerzen aussortieren. Es wählt ja auch nicht zwischen requiescat und requiescant, beides Frieden ; es trifft keine Wahl in den Gesten ; es wählt nicht zwischen Sprachen, die uns vorausgehen und die unsere Sprache begründen; es wählt nicht zwischen den Figuren ; nicht zwischen Schreien. (…) Es kann nicht mehr auswählen als ich nicht wählen kann. Es lässt gegenüber bestehen. » Pascal Quignard

Zwei Personen begegnen sich, mit sichtlich gegensätzlichen aber auch ergänzenden Visionen. Teilung : der Sibylle antwortet David, dem Lateinischen das Griechische. Auf der einen Seite die Psalmen, auf der anderen Auszüge aus sibyllinischen Orakeln, seltene als authentisch identifizierte Fragmente aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert – Ritual für Demeter – zitiert im Buch der Wunder von Phlegon von Tralleis. Sprachen einer anderen Zeit, konfrontiert mit der zeitgenössischen Stimme in französischer Sprache. Musikalische Teilung, denn die Mezzo-Stimme antwortet dem Chor und den anderen Solisten, während sich das Orchester « in den Dienst dieser beiden Visionen » stellt. Eine mit der anderen verbindend. Oder einander entgegenstellend. »

Wenn einige rythmische Figuren mittelalterliches Schluckauf heraufbeschwören, wenn man aus einigen Anklängen das traditionnelle Thema des Dies Irae erkennen kann, oder wenn man die Gegenwart Davids hinter Harfenbegleitungen erahnen kann, werden wir noch viel empfänglicher sein für die Art und Weise, wie die melodischen Linien bald gegen Himmel aufsteigen zu scheinen, bald auf der Erde zu bleiben verdammt scheinen, « angezogen von einem unwiderstehlichen Erdmagnetismus » (Thierry Lancino). « Ich will sterben » ruft die Sibylle in einem großen crescendo- Anstieg bis zum hohen F. Während die Furcht über die Hoffnung siegt, setzen sich die chromatischen absteigenden Linien durch (Dies Irae), es sei denn, die ständig dringender werdenden Rufe des Chores sinken plötzlich zusammen mit einem großen ohnmächtigen Oktav-Sprung, oder alle Bewegungen überlagern sich und verschmelzen in einem großen Wirbelstrom im Mors stupebit. Zwei Personen, denen sich eine menschliche Figur (Sopran) und die « kriegerische Kontinuität des David » (Bass) dazugesellen: das ist wohl das weitaus Ungewöhnliche für ein Requiem. Mit einem kurzen Duett Davids mit Sibylle (Agnus Dei) als einzigen verbindenden Moment, handelt es sich hier nur um eine Messe im engsten Sinn des Wortes ? Vielleicht um eine Oper, wenn man sich an die szenischen Anweisungen des Beginns heftet : » Der Schatten der Sibylle erscheint. Sie verfällt in Trance. Sie dreht sich und beginnt ihren Gesang. » Um ein Oratorium, oder, um die Worte Thierry Lancinos zu wiederholen, um « eine epische Freske oder eine sakrale Zeremonie », die eine theatrale Dimension jenseits jeglicher szenischen Demonstration beinhaltet, von dramatischer Dimension notgedrungen bereicherte Kulte. Betrachtete man nur die ersten Takte dieser aus dreizehn Teilen bestehenden Partitur, eine Prozession, punktiert von dreizehn Schlägen von großen Trommeln, Stabglocken, Gongs und tibetischen Klangschalen. Dreizehn Rufe, die die Sibylle einberufen, den dreizehnten Propheten. Ein Prolog, in dem sie ihre lange Geschichte erzählt. Sistren, Aquaphone, Aneinanderschlagen von Muscheln, Balafone, Echos von Geräuschen einer ersonnenen mediterranen Antike.

Profan oder sakral, das Requiem scheint manchmal irgendeiner heidnischen Zeremonie nahe. Das Requiem, der « Selam » gewidmet, ein seit mehr als 3 Millionen Jahre altes fossiles Australopitecus – Mädchen von 3 Jahren aus Äthiopien, ladet den Hörer ein, seinerseits die Ausgangsidee aufzugreifen. « Die Annäherung an den Tod ist widersprüchlich : Angst und Friede », sagt Pascal Quignard in seinen dem Requiem beigefügten Notizen ; in der Amharischen Sprache Äthiopiens bedeutet « selam » Friede. Widerstand, Kampf, Verhandlungsversuch seien also einige notwendige Stadien in der Akkzeptanz des Todes. Ein Weg in fünf Etapen, wie die von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen fünf Stadien, wie die fünf Teile der vom Tod des Vergil inspirierten Suite. Das Offertorium als « Gewölbeschlußstein des ganzen Ensembles : durch die Tiefe seiner Meditation. In der Liturgie erscheint die Anlehnung an die Episode des Opfers Isaacs durch seinen Vater Abraham. Das tierische Opfer tritt im letzten Moment an die Stelle des menschlichen Opfers, durch die Wirkung der Güte Gottes. Abraham erhält als Belohnung für seinen blinden Gehorsam eine Nachkommenschaft ohne Ende. Im Verlauf des Offertoriums bittet die Sibylle, sie selbst zu einer Nachkommenlosigkeit verurteilt, ein Opfer von drei mal drei Ochsen für Demeter vorzubereiten (authentische identifizierte originale Fragmenten von den Orakeln der Sibylle). Die Götter anflehend, sie doch sterben zu lassen (Text von Pascal Quignard), begreift sie, dass die Götter, an die sie sich wendet, aus Stein sind, und dass ihre alten Götter tot sind. Dass sie länger gelebt hat als jene. »

Vielleicht wollte Thierry Lancino mittels dieser musikalischen Erfahrung seinerseits verstehen. Nicht nur die Idee des Todes zu begreifen, sondern auch konkret zu erreichen, « eine Asymptote, den Menschen mit Glauben erlaubt, die mir diese Gefilde zu erreichen und in diese direkt einzutreten scheinen. Während der Komposition des Offertoriums hatte ich eine Art Offenbarung über den tiefen Sinn dieses Requiems : die Sibylle kann nicht sterben, weil ihre Götter vor ihr gestorben sind. Und es erschien mir, dass man nicht sterben konnte ohne Hilfe einer Gottheit. Dass man – wie die Sibylle – verdammt ist endlos zu irren. Dermaßen diese Gottheit ersehnend (Vergil, IV. Eklog) wird sie die Ankunft eines neuen Gottes verheissen, Christus für die Christen. Was ihre Gegenwart im Chritianismus erklärt. »

François-Gildas TUAL

* Gesehen habe ich die Sibylle von Cumae, sogar mit eigenen Augen, in einem Fläschchen schwebend, und wenn die Kinder sie fragten, auf Griechisch : « Sibylle, was willst du ? », antwortete die Arme, auch auf Griechisch : « Ich will sterben. »

"Die traditionelle Klage des Dies Irae beginnt mit:

"Tag des Zorns,
jener Tag an dem die Welt
zu Asche zerfällt
wie verheissen
von David und Sibylle".
Auf Latein:
"Dies irae dies illa
solvet saeculum in favilla
teste David cum Sibyla."

Zweifach ist die Annäherung an den Tod: Angst und Friede. Schrecken und Hoffnung. Wir sind zweifach. Angesichts des Wunsches nach Ewigem Leben, die Sehnsucht zu sterben. Das ist das Wort der Sibylle von Cumae bei Petronius: "Ich will sterben." Auf Griechisch: "Apotanein thelô." Die christliche Liturgie überliefert nur die Prophezeiung des David. Sie lässt die Höhle der heidnischen Sibylle in ihrer Tiefe. Die Sibylle prophezeite in der Neapolitanischen Bucht auf Griechisch. Ihre Höhle öffnete sich in Cumae nahe des am Averno-Sees gelegenen Einstiegs in die Unterwelt. Vor der paradisischen Obsession und der Furcht der Hölle also die eigensinnige Sehnsucht des Endes, ganz und total. Diese beiden Sehnsüchte einander gegenüber lassen. Diese beiden Farben. Dieses Requiem wählt nicht: unsterblich weiterbestehen, vollständig verlöschen, Lateinisch, Griechisch, David, Sibylla.
Pascal Quignard,
Novembre 2005
«Die Sibylle steht an der Schwelle zwischen zwei Welten, sie stellt die Verbindung her von einer zur anderen, der heidnischen Welt und der christlichen, der menschlichen Welt und der göttlichen, der Welt der Lebenden und der der Toten, der Welt des Geschriebenen und der Welt der Stimme. Im Dunkeln geblieben erweckte das Rätsel ihrer Person und ihres Sprechens die Fantasien und in ihr sahen Jahrhunderte einen Weg Unaussprechliches und Unverständliches zu erfassen, in einem steten Hin und Her zwischen der vergänglichen, unfassbaren und unklaren Sprache und deren Festlegung im Geschriebenen oder im Bild.»
M. Bouquet et F. Morzadec,
Die Sibylle, Rede und Darstellung